Die Mathematik der Nina Gluckstein. Novelle by Esther Vilar
Autor:Esther Vilar [Vilar, Esther]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783105611180
Herausgeber: FISCHER Digital
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00
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Seit zwei Tagen keine Zeile. Denn wie umständlich ist es, dieses kaum merkliche Zurückweichen Santelmos, diese Wolke, die sich hier vor seine Leidenschaft schob, mit den Mitteln der Prosa begreiflich zu machen! Und wie vergleichsweise einfach wäre es in einem Gedicht, wo ein Wort, sogar eine Silbe genügt, um ganze Welten zu beschwören! Natürlich habe ich erwogen, hier ein Stück Lyrik einzuschieben; so mancher Schriftsteller vor mir hat diesen Ausweg gewählt. Doch man weià auch, wie viele Leser solche Einschübe dann wirklich zur Kenntnis nehmen: Bei Gedichten bis zu 20 Zeilen sind es 26 Prozent; falls der Exkurs doppelt so lang ist, legen achtzig von hundert Personen das Buch zur Seite, und nur jede dritte nimmt es später wieder auf. Ich würde meiner Sache einen schlechten Dienst erweisen!
Schuld daran hat wohl zum einen die Barbarei des Schnell-Lesens, diese neue Pest, die ausgerechnet in jenem Augenblick über uns hereinzubrechen begann, als wir aus den Fabriken die Akkordarbeit vertrieben. Ein Gedicht läÃt sich ebensowenig schnell lesen, wie man schnell ein Gemälde betrachten oder schnell ein Fest feiern kann. Wie unbefriedigend muà das für unsere Leistungsfanatiker sein! Den andern Teil der Verantwortung tragen sicher unsere Schulen. Ohne zu bedenken, daà jeder Zwang in die entgegengesetzte Richtung treibt, lassen wir Kinder wie eh und je Gedichte memorieren und verschütten so bei den meisten für immer jede natürliche Neugier auf diese strengste und schönste aller Künste.
Letzteres gilt wohl auch für die strengste und schönste der Wissenschaften, die Mathematik. Und deshalb bin ich auch in meinen Interviews immer wieder dafür eingetreten, daà der Unterricht in diesem Fach weitgehend auf freiwilliger Basis funktionieren sollte. Was man hier später wirklich wissen muÃ, beherrscht man im Alter von neun Jahren â das übrige wird in der Ãra der Taschenrechner mangels Ãbung ohnehin gleich wieder vergessen. Und nur so, ohne Zwang, kann meines Erachtens jene Besessenheit entstehen, die zum Beispiel ich in meiner Jugend erleben durfte.
Zumindest die höhere Mathematik war damals in unserem Land ein Geheimnis von wenigen, die wie jene frühen Jünger des Pythagoras darüber wachten, ihr Wissen keinem «Unwürdigen» zu verraten. Logisch, daà hier die Unwürdigen in erster Linie wir Mädchen waren â die meisten haben vor diesem Hindernis auch rasch und freudig kapituliert. Doch wie wurde gerade meine Phantasie dadurch beflügelt! Meine Welt, die während der Pubertät auf die Banalitäten des Lebens einer höheren Tochter geschrumpft war, wurde dank der Mathematik wieder geheimnisvoll und groÃ.
Und je weiter ich vordrang, desto süchtiger wurde ich nach mehr. Es war, als dürfte ich noch einmal meine Kinderzeit durchleben: Das glückliche Erschrecken, mit dem man sich die jeweils höhere Zahlenreihe erobert! Jenes erste Gefühl der Grenzenlosigkeit in einer bis dahin für überschaubar gehaltenen Welt! Mag sein, daà ich schon damals ein Sonderfall war. Wie andere Kinder vor dem Einschlafen beteten, versuchte ich Abend für Abend, mir «Unendlichkeit» vorzustellen, und war erst zufrieden, wenn mir von meinem Experiment schwindelig wurde.
Welch eine Kraft, die in mathematischen Formeln steckt (lassen sie nicht an geballte Fäuste denken?), welch souveräne Kürze! Wie viele Seiten wären zum
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